Offiziell erkennt Israel keine Flüchtlinge aus Syrien an. Doch wer es schwer verletzt schafft, in den israelisch beherrschten Teil des Golans zu kommen, erhält medizinische Hilfe.
Naharija (dpa) – Das kleine Mädchen steht auf einem weißen Tisch und klammert sich an seinen Vater. Eigentlich ist es zu dünn für sein Alter. Seine abgemagerten Beine und Arme wirken zerbrechlich. Sein Kopf ist kahlrasiert, hinten klebt ein großes, weißes Pflaster. Aus den dunklen Augen spricht keine Lebensfreude oder Unbekümmertheit.
Ghada ist drei Jahre alt und Opfer des syrischen Bürgerkriegs. Ghada ist nicht ihr richtiger Name – der soll aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden. Sie darf auch nicht fotografiert werden. Als sie anfängt zu weinen, durchdringt ihr gellendes Schreien den Raum.
Ghada ist Patientin im Krankenhaus Westliches Galiläa in Naharija, zehn Kilometer von der libanesischen und 90 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt. Das Krankenhaus stellt der Bevölkerung im Nordwesten Israels medizinische Versorgung bereit, doch es ist auch spezialisiert auf Patienten aus Kriegsgebieten. Wer an einem physischen Trauma leidet, also schwere Verletzungen durch äußere Gewalteinwirkung erfahren hat, wird hier behandelt.
In Israel sind seit dem vergangenen Jahr bereits Hunderte Opfer aus Syrien behandelt worden. In Naharija sind es sei März 2013 etwa 250; jeder siebte Patient ist eine Frau oder ein Kind. Gerade sind zehn Menschen aus Syrien in Behandlung, die meisten mit schweren Kopfverletzungen. «Plötzlich finden sich diese Patienten in einem Krankenhaus im Land ihres Feindes wieder – in Israel. Um sie herum wird Hebräisch gesprochen. Viele wissen zuerst gar nicht, wo sie sind», sagt Dr. Tsvi Scheleg, der stellvertretende Direktor des Krankenhauses.
Wie es Ghada hierher geschafft hat, weiß niemand so richtig. Ihr Vater erzählt, am 19. Februar habe es einen Angriff mit Streubomben auf ihr Haus gegeben. Ghada sei schwer verletzt worden und ihr Zwillingsbruder sei umgekommen. Es sei die Idee der Mutter gewesen, nach Israel zu gehen, um dort Hilfe zu suchen. Die Bevölkerung habe ihm geholfen, an die inoffizielle Grenze zu Israel zu kommen – was auf eine Zusammenarbeit von Teilen der syrischen Bevölkerung mit Israel hindeutet. Als Ghada schwer verletzt im Krankenhaus in Naharija ankam, steckten Bombensplitter in ihrem Kopf.
Offiziell nimmt Israel keine Flüchtlinge aus Syrien auf, weil es sich formal mit dem arabischen Land seit 1967 im Krieg befindet – einen Friedensvertrag lehnt Syrien bis heute ab. Inoffiziell jedoch werden syrische Opfer, die es bis in den Golan schaffen, behandelt. Das israelische Verteidigungsministerium, das Gesundheitsministerium sowie das Krankenhaus teilen sich die Kosten.
Wer nach Israel kommen darf, entscheidet das israelische Militär. Es eskortiert die Verletzten ins Krankenhaus und nach ihrer Genesung wieder zurück – irgendwohin in das Niemandsland zwischen Syrien und Israel. Die meisten Patienten sprechen nicht darüber, woher sie kommen, und nennen ihren Namen nicht, weil sie anonym bleiben wollen. Deshalb darf es von Ghada und ihrem Vater auch kein Foto geben.
Das ist ein wichtiger Schutz, denn wenn in Syrien bekannt würde, wo sie sich helfen ließen, wären sie nach ihrer Rückkehr in Lebensgefahr. Nicht einmal die Ärzte im Krankenhaus kennen den
richtigen Namen ihrer Patienten. «Für uns macht es keinen Unterschied, wer vor uns liegt. Wir helfen jedem. Und wir fragen auch nichts. Wir machen einfach unsere Arbeit», sagt Dr. Joav Hoffman, Oberarzt auf der Kinderintensivstation.
Auch Ghada durfte nicht bleiben: Wie alle anderen Syrer, die die Ärzte des Krankenhauses behandelt haben, wurden auch sie und ihr Vater wieder nach Syrien gebracht.
Die Geschichte habe ich für die dpa in Tel Aviv rcherchiert und aufgeschrieben. Sie ist am 11. Juni über den Baisdienst der Nachrichtenagentur gelaufen.