In Israel gibt es viele Möglichkeiten, die Landessprache zu studieren: In einem Sprachkurs, an der Uni, im Kibbuz. Oder auf einer Stadttour durch Tel Aviv. Guy Sharett zeigt Neuankömmlingen und Touristen das hippe Stadtviertel Florentin, nebenbei wird Hebräisch gelernt.
Der Artikel für die dpa ist am 05.05.2014 bei den Tiroler Tageszeitung und den Salzburger Nachrichten erschienen.
„Weiß jemand, was Bürgersteig auf Hebräisch heißt?“ Guy Sharett (42) zückt eine kleine weiße Tafel aus seiner Umhängetasche und schaut seine Zuhörer aufmunternd an. Eine Frau traut sich, ganz leise sagt sie: „midrachov“. Guy lacht. „Ja, sehr gut, Du sprichst also Hebräisch. Und dann gibt es ja noch rechov für Straße. Im Hebräischen gibt es viele Wörter, die miteinander verschmolzen sind, wie zum Beispiel midrachov – eine Mischung aus midrachov und rechov – Fußgängerzone.“
Sharett ist Hebräischlehrer und lebt in Tel Aviv und nennt sich selbst „Kultur- und Sprachführer“. Sharett ist ein Sprachengenie – er spricht sieben Sprachen, darunter Arabisch und Mandarin. „Ich bin gut darin, Worte aufzuschnappen und sie mir zu merken. Aber wie alle anderen muss auch ich mich auf meinen Hosenboden setzen und pauken.“
Mit Pauken hat die Stadttour durch Florentin nichts zu tun. Streetwise Hebrew nennt Sharett sein Touren: „Pfiffiges Hebräisch“. Das Konzept ist so einfach wie kreativ. Sharett weiß aus eigener Erfahrung, wie schwierig es ist, Vokabeln stur auswendig zu lernen, ohne den Kontext zu kennen, in dem man sie verwendet. Deshalb führt er Lernwillige durch die Straßen von Florentin und bringt ihnen Hebräisch dort bei, wo man es liest und spricht: Auf Graffitis und Gullideckeln, in Bäckereien, auf Postern und Häuserwänden.
Heute ist Purim, der jüdische Fasching, deshalb trägt Sharett eine Mütze mit russischen Abzeichen. Er hat sie vor ein paar Jahren auf dem Flohmarkt in Jaffa, einem Stadtteil von Tel Aviv, erstanden. Sonst ist alles wie immer: Die Umhängetasche, die weiße Tafel, der schwarze Stift. Weil Hebräisch ein eigenes Alphabet hat, schreibt Sharett fast alles in lateinischen Buchstaben. Er will, dass die Leute verstehen, wie sich seine Muttersprache entwickelt hat. Nicht ohne immer mal wieder einen Scherz zu machen. „Meine Schüler und ich erfinden zusammen neue Worte, wie zum Beispiel bewakaschön, eine Fusion aus bewakascha – bitte auf Hebräisch – und bitteschön auf Deutsch. Mindestens sechs Leute auf der Welt benutzen das Wort bereits regelmäßig.“
Spätestens mit diesem selbstironischen Jux hat Sharett das Eis gebrochen. Die 15-köpfige Gruppe, die er heute durch Florentin führt, setzt sich größtenteils aus Deutschen zusammen, die Touristen sind. Einer von ihnen ist Thomas Sinder (45). „Ich möchte die Tour mitmachen, weil ich ein bisschen Hebräisch lernen will anhand von politischen Graffitis. Außerdem habe ich gehört, dass Florentin sehr interessant sein soll.“
Florentin ist ein altes und traditionsreiches Stadtviertel im Süden von Tel Aviv: 1921 von griechischen Juden aus Thessaloniki gegründet, haben sich dort viele Handwerker angesiedelt. Noch heute findet man Schuhmacher, Tischler und Möbelmacher, die seit Jahrzehnten in einfachen Verschlägen hämmern, klopfen und schleifen. Der industrielle Charme hat in den letzten Jahren viele Künstler angezogen, heute ist Florentin Ausgehviertel – alternativ und teuer. Allein hier gibt es zurzeit 21 Baustellen; viele neue und hochpreisige Wohnungen sind gebaut oder in Planung. Das nehmen auch die vielen Graffitikünstler wahr und reagieren auf ihre Art. „Diese Landschaft ist für Reiche“, stand einmal gesprüht auf einem Werbebanner einer Immobilienfirma, die neue Apartments bauen ließ.
Weil Florentin im Wandel ist, passt Sharett seine Tour immer wieder an. „Manchmal verschwinden die Graffitis von einem Tag auf den anderen, sie werden übermalt oder entfernt. Meine Tour ist deshalb eine Art Graffitologie – eine Mischung aus Graffiti und Archäologie.“
Die Idee zu dieser Tour hatte er während der Sozialproteste in Tel Aviv 2011. Mehrere Hunderttausend meist junge Israelis haben damals in der Innenstadt von Tel Aviv gezeltet, um gegen die steigenden Mietpreise und die hohen Lebenshaltungskosten zu demonstrieren. Sharett merkte, dass seine Studenten die Transparente der Protestler nicht verstanden haben. „Es ging da ja nicht nur darum, die Wörter und die Grammatik zu können, sondern auch die israelische Psyche, die soziale und kulturelle Ebene des Protests zu begreifen.“ Diese Idee kam so gut an, dass sich Sharett danach eine Tour für Florentin ausgedacht hat. Seit fast sieben Jahren lebt er hier, beobachtet und dokumentiert den Wandel.
Langsam senkt sich die Sonne über Tel Aviv. Die Tour führt immer weiter rein in das alte Florentin, zu den Industrie- und Lagerhallen. Hier wirkt das Viertel noch urbaner und rauer. Überall prangen die Graffitis in leuchtenden Farben, auf geschlossenen Türen und Häuserwänden. An einem bleibt die Gruppe stehen. „Was steht darauf?“ fragt Sharett. Jemand aus der Gruppe antwortet: „Jehudim ve aravim mesarvim lehiot oivim.“ Sharett erklärt: „Genau, Juden und Araber weigern sich, Feinde zu sein. Das ist ein linker Slogan, der in Israel sehr bekannt ist. Aber welcher Buchstabe hier ist nachträglich aufgemalt worden?“ Bis die Antwort kommt, dauert es ein bisschen. „Jud, das i.“ Und Sharett macht weiter: „Ja, aber ohne das i, würde es hodim heißen – Inder. Also: Inder und Araber weigern sich, Feinde zu sein. Das ist einfach ein doofer Witz und ist auch nicht wirklich sinnvoll. Deshalb hat jemand das i nachträglich aufgemalt. Ich habe das Graffiti zigmal mit i und wieder ohne i gesehen. Die Bedeutung ändert sich also ständig.“
Thomas Sinder bereut es nicht, mitgelaufen zu sein: „Ich lerne ganz viel Neues über die israelische Gesellschaft und die Kombination aus Kultur- und Sprachkurs ist sehr interessant. Klar werde ich jetzt auf die Schnelle nur ein paar Brocken Hebräisch aufschnappen können.“ Wer die israelische Landessprache also wirklich beherrschen will, kommt um einen Sprachkurs nicht herum. Ulpan heißt der in Israel, allein fünf davon gibt es im Stadtzentrum von Tel Aviv, über 90 weitere sind in ganz Israel verteilt. Dennoch kann die Tour mit Sharett ein spielerischer Anfang sein. „Also mir hat die Tour auf jeden Fall Lust gemacht, hebräisch zu lernen“ sagt Sinder voller Tatendrang am Ende.